Nuklearstrategie

Nuklearstrategie
Nuklearstrategie,
 
Bestandteil der Militär- und damit der Gesamtstrategie eines Staates oder Bündnisses; beruht auf dem Besitz einsatzfähiger Kernwaffen. Je nach verfügbaren Mitteln, unterschiedlichen Situationen und zu erreichenden Zielen kann eine Nuklearstrategie verschiedene Optionen offen halten und Funktionen erfüllen.
 
In Friedenszeiten gilt es als wichtigste Aufgabe jeder Nuklearstrategie, einen potenziellen Aggressor durch den möglichen Einsatz eigener Kernwaffen von der Anwendung militärischer Gewalt abzuhalten (nukleare Abschreckung). Bei einem Kernwaffen besitzenden Gegner hat dies jedoch nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn eine gesicherte Zweitschlagfähigkeit gegeben ist. In den krisenhafen Phasen des Ost-West-Konflikts konnte beobachtet werden, dass die »gegenseitige gesicherte Zerstörungsfähigkeit« (auch als atomares Patt bezeichnet) beide Parteien davor zurückschrecken ließ, zu direkt gegeneinander gerichteten Kampfhandlungen überzugehen. Jedoch war das Bemühen um die Aufrechterhaltung einer gesicherten Zweitschlagfähigkeit unter Ausschaltung aller Risiken ein wesentlicher Impuls für das Wettrüsten im Bereich der Kernwaffen v. a. in den 60er- und 70er-Jahren.
 
Aufseiten der NATO wurde die Nuklearstrategie mehrfach geändert und so den jeweiligen Gegebenheiten angepasst. Die 1968 gebilligte Strategie der flexiblen Reaktion (Flexible Response) sah vor dem Hintergrund des eintretenden atomaren Patts im Gegensatz zur massiven Vergeltung (Massive Retaliation) keinen nuklearen Automatismus vor. Stattdessen sollte auf jede Art von Aggression angemessen und flexibel reagiert werden.
 
Nach dem Zerfall des Warschauer Paktes und dem Ende des Ost-West-Konflikts veränderte die NATO ihre Strategie. Im Vordergrund stehen nun Dialog, Kooperation und Krisenmanagement, was jedoch keinen Verzicht auf den Ersteinsatz von Kernwaffen im Konfliktfall bedeutet.
 
Im Kriegsfall kann jede Nuklearstrategie mehrere Ziele parallel zueinander oder unabhängig voneinander verfolgen: 1) Der Gegner wird durch die Drohung mit dem Einsatz von Kernwaffen dazu gezwungen, auf eine Konzentration seiner konventionellen Angriffskräfte zu verzichten; konventionelle Überlegenheit kann so nicht uneingeschränkt genutzt werden. 2) Der Gegner wird durch einen »selektiven« Kernwaffeneinsatz (nukleare Eskalation) zum Einlenken und, wenn möglich, zum frühzeitigen Beendigen der Aggression veranlasst. Grundsatz des selektiven Kernwaffeneinsatzes ist, dass er erkennbar nicht insgesamt existenzbedrohend für den Gegner sein soll, d. h. nur den Angriff auf wenige Ziele einschließt. 3) Durch den frühzeitigen massiven Einsatz von Kernwaffen gegen Kommando- und Kommunikationseinrichtungen sowie das strategische Potenzial des Gegners kann versucht werden, diesen verteidigungsunfähig zu machen, ihn zu »entwaffnen«. Diese Option, definiert als Erstschlagfähigkeit, ist jedoch nur hypothetisch.
 
Die Zielplanung für den Einsatzfall in Ost und West war abhängig von der Treffgenauigkeit der Kernwaffen. Bis in die 60er-Jahre war diese relativ gering, gezielt wurde beiderseits v. a. auf die großen Städte. Unausgesprochen ging die Nuklearstrategie hierbei von der gegenseitigen »Geiselnahme« der Bevölkerung aus. Seit den 70er-Jahren wurden die Kernwaffen immer treffgenauer, es konnten mit ihnen nun größere Punktziele wie Befehlszentralen und Raketensilos bekämpft werden. Dementsprechend wechselte die Zielplanung von den Ballungszentren auf militärisch zu nutzende Anlagen (v. a. Flugplätze, Häfen und Depots). Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und Abrüstungsmaßnahmen im nuklearen Bereich (INF, START) verlor die Nuklearstrategie zwar an Bedeutung, bleibt jedoch ein wichtiger Bestandteil der Verteidigungsplanung von Staaten und Bündnissen.
 
Nuklearstrategische Fragen werden stets auf der höchsten Entscheidungsebene eines Staates oder Bündnisses behandelt. Die letzte Entscheidungsgewalt über den Einsatz der russischen Kernwaffen hat der russische Präsident; die Entscheidungsgewalt über die US-amerikanischen Kernwaffen, die den Hauptteil des nuklearen Potenzials der NATO bilden, liegt beim Präsidenten der USA. Die Nukleare Planungsgruppe der NATO ist jedoch an allen nuklearen Fragen, die das Bündnis betreffen, beteiligt. Einige NATO-Staaten verfügen über Einsatzmittel, mit denen Kernwaffen eingesetzt werden können (z. B. Jagdbomber), die Verfügungsgewalt über die Kernsprengkörper bleibt aber stets bis zuletzt in amerikanischer Hand. Die französischen Kernwaffen stehen im Unterschied zu den amerikanischen nicht zur Verteidigung der Bündnispartner, sondern ausschließlich zur Verteidigung Frankreichs zur Verfügung. In abgewandelter Form gilt dies auch für die britischen Kernwaffen.
 
 
M. Geiling: Außenpolitik u. N. Eine Analyse des konzeptionellen Wandels der amerikan. Sicherheitspolitik gegenüber der Sowjetunion 1945-1963 (1975);
 
Nukleare Abschreckung - polit. u. eth. Interpretationen einer neuen Realität, hg. v. U. Nerlich u. a. (1989);
 J. Steinhoff u. R. Pommerin: Strategiewechsel: Bundesrep. u. N. in der Ära Adenauer-Kennedy (1992);
 M. Kahl: Abschreckung u. Kriegführung. Amerikan. N., Waffenentwicklung u. nukleare Rüstungskontrolle von Kennedy bis Bush (1994).

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Nu|kle|ar|stra|te|gie, die: nukleare (3 a) Strategie.

Universal-Lexikon. 2012.

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